- Gessner: Lebensweg und Werk des Vaters der modernen Bibliographie und Zoologie
- Gessner: Lebensweg und Werk des Vaters der modernen Bibliographie und ZoologieKonrad Gessner wurde von seinen Zeitgenossen »der deutsche Plinius« genannt, ein Ehrenname zur Umschreibung seiner herausragenden Leistungen als Gelehrter; in Wahrheit hat Konrad Gessner zur Entwicklung von Wissenschaft und Gelehrsamkeit weit mehr beigetragen als der berühmte lateinische Kompilator; durch seine Aufarbeitung der verschiedenen Wissensbereiche hat er diesen eine eigene Gestalt und eine neue Struktur gegeben und wurde so zu einem der Großen der Wissenschaft zu Beginn der Neuzeit.Sein LebenswegEbenso bemerkenswert wie seine Leistung als Gelehrter war seine Lebensführung: Er erreichte seine außerordentliche Stellung in der wissenschaftlichen Welt durch unablässiges, in der Verfolgung seiner Ziele nie nachlassendes Bemühen. Er wurde am 26. März 1516 in Zürich geboren; seine Familie war nicht eben begütert, und er erlebte keine glückliche Kindheit. Seine Eltern vertrauten ihn einem Onkel mütterlicherseits zur Erziehung an; später nahm ihn ein Professor am Carolinum (der Zürcher Großmünsterschule) für drei Jahre bei sich auf. Trotz dieser schwierigen äußeren Umstände machte er beachtliche Fortschritte in Griechisch und Latein, sodass er sehr rasch ein Stipendium erhielt, das gerade von Zwingli zur Unterstützung bedürftiger Studenten geschaffen worden war.Im Alter von sechzehn Jahren wurde er, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, Famulus des Gelehrten Wolfgang Capito in Straßburg. Die Famulatur war jedoch nicht von langer Dauer. Dank seiner Zürcher Lehrer und Gönner erhielt er ein weiteres Stipendium zur Fortsetzung seiner Studien im Ausland. Er hält sich, wissbegierig, in Bourges und in Paris auf und treibt theologische und philologische Studien. Er lernt den Humanisten Guillaume Budé und die als Buchdrucker und Verleger bekannten Brüder Estienne kennen. Er verschlingt alle möglichen Bücher, liest die antiken Schriftsteller, die Werke der griechischen Heilkundigen und die Autoren, die sich mit den Pflanzen und ihren Eigenschaften beschäftigt haben. Er nimmt begierig alle neuen Wissensinhalte auf, und Paris bietet ihm in dieser Hinsicht alles, was sein Bildungshunger verlangt. Es lauern jedoch auch Gefahren; die Protestanten werden bedroht und verfolgt, einige enden auf dem Scheiterhaufen, und Gessner verlässt Paris fluchtartig. Er hält sich ein weiteres Mal in Straßburg auf, wo er Bucer, den berühmten Reformator, trifft; er findet jedoch keinen Broterwerb und kehrt wieder nach Zürich zurück.Hier findet er — für einen Hungerlohn — eine Stelle als Elementarschullehrer, ein Amt, das seinen geistigen Fähigkeiten in keiner Weise entspricht. Freunde greifen vermittelnd ein und verwenden sich für ihn; erneut erhält er ein schmal bemessenes Stipendium. Er geht nach Basel, um dort Medizin zu studieren, er ist jetzt zwanzig Jahre alt.Neben seinen Studien kann er sich — dank seiner hervorragenden Griechischkenntnisse — in Basel an einem Verlagsprojekt beteiligen. Mit der von ihm durchgesehenen Auflage des »Dictionarium« (eines griechischen Wörterbuchs) von Phavorinus zieht er die Aufmerksamkeit der Welt der Gelehrten auf sich. Mit einem Schlag wird Gessner bekannt: Mit einundzwanzig Jahren erhält er eine Stelle als Professor für Griechisch an der in Lausanne gerade gegründeten Akademie. Es ist die große Wende in seinem Leben.In Lausanne hält Gessner — angeregt durch hochmotivierte Studenten — Lehrveranstaltungen über die Werke der antiken Autoren ab, die ihm wohlvertraut sind; er unternimmt Exkursionen und sammelt Pflanzen zu wissenschaftlicher Untersuchung. Er ist umgeben von einem Kreis von Freunden, die demselben Glauben anhängen wie er, und er ist — endlich — glücklich. Er verfasst die »Historia plantarum«, ein Handbuch der Naturgeschichte, in dem er die Pflanzennamen in alphabetischer Reihenfolge anordnet, ein von antiken Autoren inspiriertes Werk, das mehrere Auflagen erlebt.Im Jahr 1540 trifft er in Zürich auf der Durchreise den dortigen Stadtarzt Clauser, der ihn ermuntert, seine medizinischen Studien wieder aufzunehmen. Gessner lässt sich überzeugen und wird — nach drei glücklich verlebten Jahren — erneut Student. Er geht nach Montpellier, kehrt wieder nach Basel zurück, widmet sich seinen Studien und wird 1541 — mit fünfundzwanzig Jahren — zum Doktor der Medizin promoviert. Dann ist er wieder in Zürich und nimmt dort eine Stelle als Dozent am Carolinum an, wo er Naturphilosophie unterrichtet. Er verfasst den Catalogus plantarum (einen Pflanzenkatalog), der 1542 in der Druck- und Verlagsanstalt Froschauer in Zürich erscheint. Der Verleger wird sein Freund; in seinem Verlagshaus kommen die meisten Werke Gessners heraus, darunter herrliche Folioausgaben, die auch heute noch Bewunderung wecken. 1546 wird er — mit dreißig Jahren — zum Professor ernannt. Von nun an verfolgt er seine Lehrtätigkeit parallel zu seinen wissenschaftlichen Forschungen und den Arbeiten an den Editionen antiker Texte.Häufig ist er auf Exkursionen unterwegs, betrachtet die Wunder der Natur und botanisiert auch. Mit seinem Zeitgenossen Paracelsus teilt er die Bewunderung für die Natur, anders als dieser aber ohne jeden Anklang von Mystizismus und immer eingedenk dessen, was Autoren vergangener Zeiten über die Pflanzen und ihre Eigenschaften geschrieben haben. »Ich bin entschlossen, solange die göttliche Vorsehung mein Leben erhält, jährlich wenigstens einen Berg zu ersteigen, und zwar in der Jahreszeit, wo die Pflanzenwelt in ihrer vollen Kraft ist, teils um meine Kenntnisse derselben zu erweitern, teils um meinen Körper zu stärken und meinem Geist die edelste Erholung zu verschaffen.«Gessners zukünftiger Weg ist vorgezeichnet: Es kommt die Zeit seiner großen wissenschaftlichen Werke, der »Bibliotheca universalis« (der »allumfassenden Bibliothek«, 1545), der »Historia animalium« (»Naturgeschichte des Tierreiches«, 1551—1558), der »Historia plantarum« (der »Naturgeschichte der Pflanzenwelt«), dreier bedeutender Wegmarken in der Geschichte des europäischen Geistes, dreier entscheidender Stationen wissenschaftlichen Fortschritts (wovon noch die Rede sein wird).In der derselben Zeit, in der Gessner diese wegweisenden Arbeiten vorlegt, fährt er unermüdlich fort, das weite Feld des Wissens zu erkunden. Da war zunächst die Res literaria (das Gebiet der gelehrten Veröffentlichungen); Gessner sagte von sich selbst, das Griechische sei ihm ebenso vertraut wie seine Muttersprache. Er liebt die Texte und die Bücher; er bereitet Ausgaben antiker Schriften vor. Seine Ausgabe der »Selbstbetrachtungen« von Mark Aurel erlebte fünfundzwanzig Neuauflagen! Er veröffentlicht die Werke des römischen Arztes Galen (1541 und 1562), des griechischen Schriftstellers Stobaios (1543), der Kirchenväter (1541, 1544). In jedem Jahr erscheinen, von Gessner betreut, weitere Ausgaben.Mit seinem Werk gehört er in die Epoche des Humanismus, in der — auf dem Wege des Buchdrucks — die Weisheit und das Ideengut der antiken Autoren verbreitet wurden, um den Zeitgenossen eine neue gedankliche Grundlage für ihre wissenschaftlichen Überlegungen zu liefern. Nie verlor Gessner dieses Ziel aus den Augen. Deshalb vertrat er — anders als Paracelsus — die Auffassung, eine Erneuerung der ärztlichen Wissenschaft sei nur durch das Studium von Galen und Hippokrates möglich, ebenso wie er als zutiefst gläubiger Protestant eine Erneuerung des Glaubens nur durch eine Orientierung an der Bibel als dem Maßstab des Wortes Gottes ansah.Außer an den antiken Autoren zeigte sich Gessner aber auch an den Sprachen in ihrer Gesamtheit und ihrer Verschiedenheit, an ihrer Analyse und vergleichenden Betrachtung interessiert. In seinem Mithridates (erschienen 1555) arbeitet er Analogien, Ähnlichkeiten und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Sprachen heraus und skizziert die Idee einer Universalgrammatik. Es gibt offenbar kein Gebiet, das dieser wissbegierige und wache Geist nicht für sich erschließen möchte.Diese breit gefächerte Forschungstätigkeit hätte ausgereicht, das Leben eines Menschen auszufüllen, der im Übrigen auch nicht frei von materiellen Nöten war. Nun aber wurde Gessner auch noch zum Archiater, das heißt zum Stadtarzt, von Zürich ernannt und damit verantwortlich für das öffentliche Gesundheitswesen. Er sah sich mit Problemen der medizinischen Praxis konfrontiert, und das zu einer Zeit, als die Bevölkerung von Epidemien, insbesondere der Pest heimgesucht wurde. Als Mediziner stand Gessner in der Nachfolge Galens, dessen bester Kenner er damals war. Galens Werk stellte für ihn eine solide und vernünftige Grundlage dar, die geeignet war, die medizinische Wissenschaft von den unwissenschaftlichen und abergläubischen Praktiken zu befreien, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts überhand nahmen. Er veröffentlichte eine Reihe von Werken, in denen Gelehrsamkeit und aus der Erfahrung gewonnenes Wissen einander gegenseitig stützen, zum Beispiel den »Thesaurus« (»Arzneischatz«, 1552), die »Praeceta Sanitatis« (»Gesundheitsvorschriften«, 1556) und »De chirurgia scriptores« (»Die großen Schriftsteller der Chirurgie«, 1555).Gessner war aber nicht nur ein Gelehrter, ein Philologe und Mediziner, er war auch ein gläubiger Christ; kein der Kontemplation zugeneigter Mystiker, sondern ein der Kirche verbundener Mensch, ein Anhänger der Lehre Zwinglis. Täglich las er in der Bibel, vor allem liebte er die Psalmen des Alten Testaments. Sein schlichter und starker Glaube half ihm in diesen von Religionskriegen erschütterten Zeiten standzuhalten. Wie hätte er nach dem Tod seines Vaters und dem Tod Zwinglis, seines in der Schlacht von Kappel 1531 gefallenen Wohltäters, ohne einen unerschütterlichen Glauben bestehen können? Dieser Glaube ließ ihn in Zürich, dieser leidgeprüften Stadt, auch alle diejenigen mit offenen Armen aufnehmen, die dort eine Zuflucht suchten, vor allem die von Maria Tudor der Katholischen verfolgten englischen Protestanten, unter denen sich auch eine Reihe von Wissenschaftlern befanden, mit denen er später in fruchtbaren Gedankenaustausch trat.Alle diese Menschen waren zutiefst von den Ideen der Reformation und von theologischen Fragen umgetrieben, was eine Art intellektuell stimulierenden Klimas schuf. Der im Mittelpunkt dieser Gemeinschaft stehende Gessner begnügte sich nicht damit, seinen Glauben zu praktizieren, er war auch um Klärung von Glaubensfragen bemüht: 1549 veröffentlicht er seine »Partitiones theologicae« (eine Einteilung der theologischen Schriften) als Ergänzung zu seinen »Pandectae« (das heißt die »Allumfassenden«). Diese Schrift ist die einzige theologische Enzyklopädie im Zeitalter der Reformation. Die einzelnen theologischen Disziplinen werden darin systematisch dargestellt. Gessner geht methodisch an seinen Gegenstand heran und präsentiert ihn im Zusammenspiel seiner einzelnen Teilbereiche als strukturiertes Ganzes. Erstmalig veröffentlicht er auch eine Anzahl von Texten der Kirchenväter, zusammen mit einer Übersetzung und einem Kommentar, nicht nur als Freund der antiken Kultur, sondern auch, weil in diesen Schriften grundlegende Glaubensfragen erörtert werden.Intensive, rastlose Arbeit, Tag für Tag, sogar zu nächtlicher Stunde beim Schein der Öllampe, ständiger brieflicher Gedankenaustausch mit Gelehrten in ganz Europa, häusliche Sorgen, wer wäre solchen Belastungen auf die Dauer gewachsen? 1564 stirbt Gessners Freund Froschauer, im selben Jahr verliert er seine Mutter. In Zürich wütet die Pest. Gessner ist Tag und Nacht im Einsatz; er versorgt zahllose Kranke. Schließlich wird auch er angesteckt. Als erfahrener Arzt weiß er, dass es keine Aussicht auf Heilung gibt; er rechnet mit seinem baldigen Ende und macht sein Testament. Statt sich aufs Krankenlager zu begeben, bringt er Ordnung in seine Papiere und Sammlungen, nimmt Abschied von seinen Freunden, gibt Anweisungen im Hinblick auf die noch zu veröffentlichenden Texte. Am letzten Tag seines Lebens legt er vor Pfarrer Bullinger das Bekenntnis seines Glaubens ab und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, Gott möge ihn in sein himmlisches Reich aufnehmen. Am Abend weiß er seine letzte Stunde gekommen; er lässt sich von seiner Frau in sein »Museum« führen und gibt wenig später seinen Geist auf.Die Stadt Zürich trauert um den Arzt und um den Gelehrten. Gessner findet seine letzte Ruhestätte im Kreuzgang des Großmünsters. Sein Werk aber überlebte ihn.Bibliotheca universalisSehr früh schon fasste Gessner den Plan, einer gebildeten Leserschaft das wissenschaftliche Schrifttum in seiner Gesamtheit vorzustellen, was einen vollständigen Überblick über die durch die Erfindung des Buchdrucks verfügbar gewordenen Veröffentlichungen voraussetzte. Der Beginn des 16. Jahrhunderts, als dieser Plan reifte, war in dieser Hinsicht ein ganz besonderer Zeitpunkt in der abendländischen Geschichte; heute wäre — wenn man an die unüberschaubare Zahl von Veröffentlichungen denkt — ein vergleichbares Vorhaben unvorstellbar.Ein Charakteristikum in Gessners Arbeiten ist seine Vorliebe für wissenschaftliche Bestandsaufnahmen. Schon der »Catalogus plantarum« zeugt davon, und Gessner wird später die gesamte vielgestaltige Lebenswelt in Form einer Katalogisierung wissenschaftlich aufarbeiten. So sammelt er alle Titel von Werken lateinisch-, griechisch- und hebräischsprachiger Autoren und klassifiziert sie in alphabetischer Reihenfolge, das heißt entsprechend dem praktischen Benutzerinteresse.Trotzdem darf man sich diese an einem Ordnungsprinzip orientierte Vorgehensweise nicht im Sinne einer einfachen Kompilation vorstellen. Der Unterschied liegt gerade in der Fachkompetenz des Autors: Er kennt die zitierten Werke und ist in der Lage, sich darüber ein Urteil zu bilden. Und eben dadurch bekommt das Werk eine andere Qualität.Historisch betrachtet ist Gessners Arbeit die erste allgemeine, internationale, nach Autoren geordnete Bibliographie, die wir kennen. Als solche ist sie ein Markstein in der Geschichte des Buches, wobei man allerdings bedenken muss, dass »Bibliothek« nicht als Synonym zu der heutigen Bezeichnung »Bibliographie« zu verstehen ist. Das Werk sollte eine ideale Bibliothek zum Nutzen all jener werden, die angesichts der Fülle von Publikationen nach einer Orientierungshilfe suchten.Der Plan nahm 1545 mit der Veröffentlichung des ersten Bandes Gestalt an; dieser umfasste 1 264 Seiten in Folioformat und trug den Titel »Bibliotheca universalis«. Drei Jahre später, 1548, erschienen die »Pandecta« (die »Allumfassenden«), in denen der gewaltige Wissensstoff nach Sachgebieten angeordnet ist. Diese zur damaligen Zeit einzigartigen Werke beeindruckten die Fachwelt durch das wahrhaft enzyklopädische Wissen, das Gessner in ihnen ausbreitete, wegen der stupenden Sprachkenntnisse des Autors und der drucktechnischen Sorgfalt, die auf die Gestaltung der Bände (über 2 000 Seiten in Folioformat) verwendet worden war.Die systematische Ordnung, die Gessner mit seinen »Pandecta« erstmals einführt, ist eine Art wohl durchdachter Zusammenstellung des gesamten verfügbaren Wissens. Folgte die »Bibliotheca« noch einem äußeren Ordnungsprinzip (in Gestalt des Alphabets), so sind die »Pandecta« nach inhaltlichen, rationalen Gesichtspunkten angelegt; auf diese Weise erhalten die veröffentlichten Schriften eine innere Gliederung. Diese ist vom traditionellen Kanon der sieben freien Künste abgeleitet, den Gessner noch um die Medizin, die Rechtswissenschaft und die Theologie erweitert. In der Darlegung des Stoffes folgt Gessner dem Prinzip fortschreitender Differenzierung, von einer Abteilung zur nächsten fortschreitend, gelangt er zu einer Gesamtschau, in der die einzelnen Wissensgebiete zugleich zusammengefasst und entsprechend geordnet werden.Dieses beeindruckende Werk wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen zu einem wichtigen Arbeitsinstrument für alle Gelehrten. Im Jahr 1555 ergänzte Gessner es um 210 Seiten in Folioformat mit weiteren 2 000 Autorennamen. Damit wurde eine Entwicklung in Gang gebracht und eine neue Werkgattung geschaffen.Bis ins 18. Jahrhundert hinein wetteiferten die Universalgelehrten und Polyhistoriker, um zu noch größerer Genauigkeit und Differenziertheit und zu einer — im Grunde unmöglichen — erschöpfenden Darstellung der Materie zu gelangen. Gessners Werk war eine Pionierleistung. Von früheren Kompendien unterscheidet es sich durch die erklärte Absicht, das gelehrte Wissen in seiner Gesamtheit nach bestimmten Richtlinien zu erfassen. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass Gessner dieses monumentale Sammelwerk ganz allein erstellt hat; es ist das umfangreichste im 16. Jahrhundert von einem einzelnen Menschen geschaffene Werk überhaupt.Historia animaliumDer Begriff »Historia« hat bei Gessner dieselbe Bedeutung wie bei Aristoteles; er verweist auf die Erforschung eines bestimmten Fachgebiets, auf die Erkenntnis seiner Grundlagen und deren Beschreibung. Der Ausdruck »Historia« ist demnach dem Begriff »Inventar« (von lateinisch invenire »entdecken«) inhaltlich verwandt. In der »Historia animalium« geht es also — mit Blick auf die Lebewesen — um dasselbe Problem wie in den »Pandecta« mit Bezug auf die Wissenschaften, nämlich darum, ein möglichst vollständiges Verzeichnis der Lebewesen des Tierreichs und seiner Grundlagen anzulegen und eine möglichst sinnvolle Gliederung zu erarbeiten mit dem Ziel, das Fachgebiet zu strukturieren.Das Reich der Lebewesen ist groß; zu Zeiten Gessners lag noch keine wissenschaftliche Klassifikation vor, die ihm auf diesem Gebiet als Leitfaden für seine Arbeit hätte dienen können. Angesichts der Formenvielfalt der Lebewesen stand er nun also vor der Aufgabe, ein Ordnungsprinzip zu finden. Ein Jahrzehnt lang mühte Gessner sich mit bemerkenswerter Ausdauer, diesen ehrgeizigen Plan umzusetzen.Gessner hatte die Natur in langen Jahren beobachtet, und er hatte viel gelesen (vor allem die antiken Autoren) und sich Aufzeichnungen gemacht. Auch stand er mit einer ganzen Reihe von Briefpartnern in vielen Ländern in Verbindung, die er um Informationen über Tiere ersuchte, wenn möglich auch um entsprechende Zeichnungen. So versuchte er unermüdlich, sich Abbildungen derjenigen Tiere zu beschaffen, die er nicht aus eigener Anschauung kannte. Auch ließ er sich Tiere oder Teile von Tieren (Kieferknochen, Skelette, Federn) aus verschiedenen Ländern schicken, um einen unmittelbaren Eindruck von ihnen zu gewinnen. So befand er sich — bildlich gesprochen — inmitten eines großen Spinnennetzes, dessen einzelne Fäden die Informationskanäle darstellten.Auch besaß er selbst eine Begabung fürs Zeichnen und Skizzieren, und er brachte von seinen Exkursionen häufig Tier- und Pflanzenskizzen mit. All dies führte schließlich zu einem bedeutenden dokumentarischen Werk, in das überliefertes Wissen, eigene Erfahrungen, Gegenstände aus seinem »Museum«, Mitteilungen seiner ihm ebenbürtigen Briefpartner eingingen, einem Werk, das durch die technischen Möglichkeiten des Buchdrucks, die Anreicherung des Textes durch die bildliche Darstellung, ein ganz neues Gesicht bekam.Worin bestand nun das Neuartige? Die mittelalterlichen Kupferstiche sollten nicht die Wirklichkeit wiedergeben: Sie sprachen vor allem die Fantasie des Betrachters an. Bei Gessner vollzieht sich eine Veränderung der Sehweise: Seine Abbildungen sollen den Blick auf die Wirklichkeit lenken, sie sollen zum Sehen anleiten. In den Jahren 1553, 1555 und 1560 erscheinen die »Icones«.In der Anlage des Werkes orientiert Gessner sich an Aristoteles; er geht jeweils von der zoologischen Gattung aus; er beginnt mit den Säugetieren, es folgen die Amphibien und vierfüßigen Reptilien, dann die Vögel, die Fische, die Schlangen und die Insekten. Aristoteles hatte jedoch nie den Versuch gemacht, ein vollständiges Verzeichnis der Arten einer Gattung zu erstellen; er begnügte sich damit, die im allgemeinen Bewusstsein verankerten Klassifikationen festzuschreiben.Gessner hingegen nähert sich den Erscheinungsformen des Lebendigen grundsätzlich in einer klar festgelegten, einheitlichen Form. Das ist neu; hier kündigt sich ein neuzeitlicher Zug an in dem Bestreben, die Wissensvermittlung auf Prinzipien zu gründen, die die Möglichkeiten der systematischen Darstellung nutzen. Gessner geht an seinen Untersuchungsgegenstand mithilfe eines festen Rasters von Kriterien (nämlich jeweils von acht Aspekten) heran; diese Vorgehensweise erlaubt es ihm, den Wissensstoff auf völlig neue Art anzuordnen. Gessner eröffnet so die Epoche des auf methodischem Wege gewonnenen Wissens. Es umfasst nach seiner Definition das Schrifttum über Zoologie, Medizin und Veterinärmedizin, über die Arzneimittel, über Kochkunst, Landwirtschaft, Geschichte, Theologie und anderes. Nichts lässt er außer Acht, vielmehr untersucht er jeden Gesichtspunkt systematisch. Heute hat sich dieser umfangreiche Wissensstoff in Dutzende von Spezialdisziplinen aufgefächert; bei Gessner hat er noch eine einheitliche Gestalt mit einer Vielzahl unterschiedlicher Profile.Das Werk ist beeindruckend: Die »Historia animalium« umfasst — wenn man noch das (nach Gessners Tod erschienene) Buch über die Schlangen hinzunimmt — 4 400 Seiten in Folioformat mit ungeheurem Umfang. Sie allein hätte das Leben eines Gelehrten ausfüllen können. Zu Gessners Lebzeiten erschienen vier Bände über die vier großen Tierklassen: die Säugetiere (1551), die Amphibien und vierfüßigen Reptilien (1554), die Vögel (1555) und die Wassertiere (1558). Titel und Texte sind in Latein, der damals international gebräuchlichen Wissenschaftssprache, abgefasst.Zu einem späteren Zeitpunkt erschienen Auszüge in deutscher Sprache (die zwei Jahrhunderte lang immer wieder neu aufgelegt wurden). 1587 kam das Buch über die Schlangen heraus, 1589 eine kurze Abhandlung über den Skorpion. Das Buch über die Insekten wurde nicht mehr veröffentlicht. Der vierte Band der »Historia animalium« (über die Fische) ist Kaiser Ferdinand I. gewidmet. Der Kaiser zeigte sich durch eine Einladung zum Reichstag zu Augsburg 1559 erkenntlich und gewährte Gessner dort eine Audienz. Später verlieh ihm der Kaiser ein Wappen; diese Geste machte Gessner sehr glücklich, er wertete sie als Lohn für seine wissenschaftlichen Leistungen.Historia plantarumBei seinen Untersuchungen über das Pflanzenreich konnte Gessner bereits auf Vorarbeiten zurückgreifen. In diesem Zusammenhang ist einmal der antike Schriftsteller Theophrast zu nennen, der die Botanik als eigenes Forschungsgebiet aus der Zoologie herauslöste; zum anderen lagen zahlreiche einschlägige Werke von Zeitgenossen Gessners vor (z. B. von Brunfels, Bock, Fuchs und Mattioli). Auch auf dem Gebiet der Botanik trat Gessner jedoch mit eigenem wissenschaftlichen Profil hervor. Er war am Pflanzenreich in seiner Gesamtheit interessiert. Er war der Auffassung, das Reich der Pflanzen solle um seiner selbst willen Gegenstand der Untersuchung werden und nicht — wie es häufig der Fall gewesen war — mit Blick auf die heilkräftige Wirkung der Pflanzen oder aus rein philologischem Interesse. Nur so — meinte er — könne man eine innere Ordnung des Pflanzenreichs begründen oder auffinden. Auch hier ist also die Vorgehensweise neuartig; die bisher von den Botanikern geschaffenealphabetische Ordnung wurde durch eine andere abgelöst.Auf der Suche nach einer solchen Ordnung entfaltete Gessner eine lebhafte Forschungstätigkeit mit dem Ziel, möglichst viele und genaue Informationen zu sammeln. Er legte zu diesem Zweck übrigens zwei botanische Gärten an, die er auch selbst betreute. Aber er sandte auch Hilfskräfte aus, die auf seine Kosten die für seine Arbeit nötigen Pflanzen ausfindig machten und beschafften. Dabei unterstützten ihn auch seine zahlreichen Briefpartner. Diese Sammeltätigkeit war eine Aufgabe ohne Ende; wie sollte man eine Unternehmung dieser Art auch zu einem Abschluss bringen?Gerade darin lag das schwierigste Problem: Es handelte sich nicht nur darum, die Pflanzen zu beschreiben und miteinander zu vergleichen; es mussten vielmehr Kriterien gefunden werden, aufgrund derer jede Pflanze einen ganz bestimmten Platz im Pflanzenreich erhielt. Durch die Verbindung solcher Merkmale sollte es möglich werden, jeder Pflanze einen genau definierten Rang im Rahmen einer botanischen Klassifizierung zuzuweisen.Drei Wochen vor seinem Tod definierte Gessner in einem Brief an seinen Freund Zwinger die Pflanzenteile, aufgrund derer — mit Blick auf ihre Form und ihre Stellung — dieser Rang zu bestimmen sei, nämlich Blüte, Frucht und Wurzel. Um eine Pflanze von einer anderen zu unterscheiden, sollte von den jeweiligen Gemeinsamkeiten ausgegangen werden. Auf den Zeichnungen, die er selbst angefertigt hat, sind neben der in Totalansicht dargestellten Pflanze die genannten Teile als Detailansichten vergrößert wiedergegeben. Diese revolutionäre Entdeckung bereitete den Weg für die Entwicklung einer modernen botanischen Systematik.Unglücklicherweise erfuhren Gessners Zeitgenossen — wegen der Unfähigkeit seiner Testamentsvollstrecker — von dieser Entdeckung nichts; deshalb fand, was Gessner gedanklich vorweggenommen hatte, erst zwei Jahrhunderte später — durch Linné — seinen krönenden Abschluss.Gessner hat aber noch andere Schriften veröffentlicht, darunter »De rerum fossilium« (Über die Fossilien, 1565), »Descriptio Montis Fracti« (Über den Berg Fractus, 1555), »De Thermis« (Über die Thermalquellen, 1553), »De anima« (Über die menschliche Seele, 1563). Kein Gebiet der Wissenschaft hat er unberücksichtigt gelassen.Er war ein Großer unter den Großen seiner Zeit, glänzte durch seine unvergleichliche Gelehrsamkeit. Mit seinen methodischen Grundsätzen hat er die Wissenschaft seiner Epoche geprägt, aber auch die Grundlagen für die moderne Bibliographie und Zoologie gelegt.Lucien BraunGernot Rath: Konrad Gessner. 1516-1565. Zürich 1965.Hans H. Wellisch: Conrad Gessner. A biobibliography. Zug 1984.Lucien Braun: Conrad Gessner. Genf 1990.
Universal-Lexikon. 2012.